Im 23. Juli 1944, in der Schlacht von Brody / Lemberg, wurde Hans Martin verwundet und galt seither, für seine Frau Lilo und den Erstgeborenen Hans sowie die Angehörige und Freunde als Verschollen. Bis er nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und einer abenteuerlichen Flucht am 17. August 1945 ohne Vorwarnung seine Lieben wieder in die Arme schließen konnte.
Ferne Weihnacht 1944
3 Jahre waren seit jener Kriegsweihnacht vor Moskau vergangen. Über die
Tatarensteppe, deren feiner Sand im Sommer so unbarmherzig geglüht
hatte, lag tiefer Schnee gebreitet und ein eisiger Wind jagte über sie
hinweg. Noch immer wandelten die dürren Gestalten der Kriegsgefangenen
nur mit Hemd und Unterhose bekleidet auf Holzpantoffeln durch die Gänge
des Lazarettes, eines der wenigen Steingebäude von Atkarsk, einer Stadt
zwischen 30.000 und 40.000 Einwohnern. Früher war es eine Schule, jetzt
aber waren kranke und verwundete „Fritze“ drin untergebracht, verhasste
Deutsche, über deren Dasein doch viele beglückt waren, denn so gute
Zeiten hatten sie noch nie gesehen wie jetzt, da sie auf Kosten der
Gefangenen gut leben konnten.
Seit einigen Tagen herrschte eine
gehobenere Stimmung im Haus und alle hatten etwas Besonderes, ein
Geheimnis, wohl auch nur ein leeres Gerücht, an das man sich aber
klammerte – und ein jeder hütete sein Geheimnis, um nicht enttäuscht zu
werden, wenn es in Wasser zerlaufen sollte. Aber es war kein Gerücht
diesmal. Der Major der NKWD, der berüchtigten GPU, [медведь ] auf
deutsch „der Bär“, von uns allgemein ob seiner Armprothese Holzarm
genannt, hatte allen Ernstes versprochen, dem Lazarett nicht nur einen,
sondern sogar 2 Fichtenbäume zu besorgen und auf unsere bange Anfrage,
ob wir denn auch eine Weihnachtsfeier halten dürften, antwortete er mit
seinem gönnerhaften [ позволило ], d.h. es ist erlaubt.
3 Tage
vor dem Hl. Abend sollte eine Ausstellung von selbstgefertigten
Spielsachen stattfinden. Da regte sich nun die Schaffensfreude und wer
nur irgendwelche Geschicklichkeit der Hand besaß, begann zu schnitzen
und zu basteln. Messer sind gefährliche Waffen und deshalb verboten.
Aber Not macht erfinderisch – und dieses Sprichwort bewahrheitete sich
auch hier. Als der Tag der Ausstellung herankam, war ein ganz schönes
Häufchen von Spielzeug zusammengekommen und der russische Major zog mit
seinem Pack zufrieden ab.
Nun hatten wir sogar erreicht, dass die
Feier auf abends 8 Uhr festgelegt wurde. Mit der Küchenschwester waren
wir bald einig, das Abendessen wurde auf eine Stunde vorverlegt, aber
für das Licht war uns bange, gar oft schon ließ es uns in Stich – und so
kam es auch. Die Weihnachtsfeier musste im Halbdunkel einiger
rauchender und rußender Petroleumlampen gehalten werden und war
vielleicht gerade dadurch so denkwürdig.
In den
Nachmittagsstunden des Hl. Abends herrschte reges Leben. Im großen Saal
der 120 Kranke beherbergte, wurden die beiden Bäume aufgestellt und mit
Watte geschmückt, das dumpfe Dahinbrüten der Kranken war geschwunden und
auf aller Gesichtern konnt man etwas von der frohen Erwartung eines
Kindes lesen. Hin und wieder tauchte eine russische Schwester oder einer
der Wachposten auf, von Neugierde getrieben, zu sehen wie die Deutschen
das machen und verschwanden dann wieder.
Es dämmerte, die
Vorarbeiten waren beendet, nach dem Essen wurde der Saal geöffnet und
alles drängte hinein. Vorne etwas seitwärts waren die Plätze für die
russischen Ärztinnen, für den Lagerkommandanten und die deutschen Ärzte.
Wer einigermaßen konnte, erschien, für die Schwerkranken waren
Liegeplätze freigehalten, die anderen saßen auf einer Decke. Die Türen
zu den Nebenzimmern waren geöffnet, so konnten ungefähr 1000 Deutsche
und Ungarn an der Feier teilnehmen.
Der Saal hatte eine
ausgezeichnete Akustik und war für Konzertzwecke wie geschaffen. Kurz
nach 8 Uhr erschienen die Ärztinnen, ihnen voran die kleine, gedrungene
Natschalnik mit ihrem watschelnden Gang, von uns ob ihrer anfänglichen
Gehässigkeit auf die Deutschen Zecke genannt. Bald aber hat sie sich in
eine sorgende Frau verwandelt, die manches Unheil von uns abwendete. Ihr
Erscheinen war das Zeichen zum Beginn. Von nun an war tiefstes
Schweigen, das heute auch nicht vom halblauten Geschwätz und Kichern der
Russinnen unterbrochen war.
Hymne an die Nacht
Heil'ge Nacht, o gieße du Himmelsfrieden in dies Herz,
Bring' dem armen Pilger Ruh', holde Labung seinem Schmerz!
Hell schon erglühn die Sterne, grüßen aus blauer Ferne:
Möchte zu euch, so gerne flieh'n himmelwärts.
Harfentöne, lind und süß, weh'n mir zarte Lüfte her,
aus des Himmels Paradies, aus der Liebe Wonnemeer.
Glüht nur, ihr gold'nen Sterne, winkend aus blauer Ferne:
Möchte zu euch, so gerne flieh'n himmelwärts.
Text: Friedrich von Matthisson (1761−1831)
Komponist: Ludwig van Beethoven
Dieser Chor leitete die Feier ein, dann sprach P. Notker oder wir ihn
nannten Josef einige Worte über die folgende Weihnachtskantate, zu
welcher er die Worte formte und ich die Musik schrieb. Aber kaum waren
die ersten Akkorde verklungen, da gab es einen Knacks und wir saßen im
Dunkel, der Chor hatte eben zu singen begonnen, aber er sang trotz der
Dunkelheit unbeirrt weiter:
Es klingt ein Lied aus Kindheitstagen,
da unterm lichten Weihnachtsbaum
von sel’ger Mutterlieb getragen,
ich träumt’ den allerschönsten Traum.
In heil’ger Nacht war Fried zuteil
Den Menschen auf Erden geworden;
Ein Kind hat ihnen gebracht das Heil
Geöffnet verschlossene Pforten.
Nun da die Augen nichts sahen, waren ihre Herzen mehr aufgeschlossen für das, was die Ohren hörten. Wie gut, dass wir uns für diesen Fall schon vorgesehen hatten. Im Nu
brannten zwei Petroleumlampen, die eine am Klavier, die andere für die
Solisten, die nicht ganz sicher und auch nicht frei vom Lampenfieber
waren. Trotz Lampe musste sich der Klavierspieler, ein Oberarzt der
Erlangener Universitätsklinik, seit Stalingrad in Gefangenschaft, recht
abmühen, dass er lesen konnte; denn das Papier, das man in Russland
findet, ist schlecht, Tinte und Federn noch schlechter. Aber der Versuch
mit einer zweiten Lampe misslang; sie stürzte ins offene Klavier und
ergoss sich über die Saiten, wohl dass kein Rost sich ansetzte. Der
Zwischenfall wurde kaum bemerkt, ebenso entging den meisten, dass der
Tenorsolist bei seinem ersten Einsatz wiederholen musste, er hatte
gleich in der Mitte seiner Verkündigungsarie begonnen: Siehe, Du wirst
empfangen! Die plötzliche Finsternis hatte ihn so beunruhigt, dass ihm
alles entschwand und das erste Wort das ihm in die Erinnerung
zurückkehrte, war dann auch verkehrt. Weiterhin machte er keinen Fehler
mehr, da ich ihm Wort für Wort vorsprach. Der Bassist hingegen, ein
Kulmbacher Arzt, sang unbeirrt und ließ sich durch nichts stören.
Die Kantate war beendet, alles lauschte nun den Worten der
Frohbotschaft, die Josef den armen Gefangenen vorlas, den Worten, die
Frieden den Menschen verkündeten. So dürften also auch wir hoffen und
harren auf den Frieden und auf die Heimkehr. In jenen Augenblicken
bezogen wir alle diese Worte auf diese Welt.
Aber war das nicht
ein Hohn? Der Russe lässt uns die Geburt Christi feiern, dessen
Gedächtnis er in seinem Volke mit aller verfügbaren Macht auszurotten
versuchte. Diese Frage berührte uns nicht, sie stand damals auch nicht
vor uns, wir waren von der Weihnacht zu tiefst ergriffen, gleich ob
gläubig, oder nicht – in dieser Stunde stand das Kind in der Krippe im
Mittelpunkt unseres Denkens und Fühlens.
Nun stellten einige Kameraden aus den Alpen drei Szenen dar:
Die Hirten am Feuer, die Herbergssuche und die Anbetung der Hirten. Sie
machten es fein, die Notbeleuchtung kam ihnen dabei vorteilhaft
zustatten. Auch der Chor sang noch einige Weihnachtslieder.
Nun
sollten aber auch die nicht vergessen sein, die von uns gegangen sind.
Mit diesen standen wir ja ganz nahe in Verbindung, jeden Tag hauchte
einer sein Lämpchen aus, und niemand konnte bei klarer Überlegung
wissen, ob nicht auch er dort drüben sein Leben lassen müsse. Dazu kam
noch das furchtbare Wissen vom Los der 92.000 von Stalingrad.
Ein
Gedicht, das ein unbekannter Stalingrader in jener Kriegsweihnacht von
1942 geschrieben, ist wohl erst nach seinem Tode aufgefunden worden und
wurde von einem Arzt als Heiligtum aufbewahrt.
Wild rast der Sturm hin übers Land,
zuweilen kracht es heulend in den Schnee,
doch heut ward frohe Botschaft ausgesandt:
Die Ehr’ dem Gott in der Höh’!
Horch, klingt da nicht ein Glockenton
Singt nicht dort oben Engelschor?
Der Welt verkündend Gottes Sohn
Und Fried den Menschen immerdar!
Im Bunker sitzt bei Kerzenschein,
still versunken ein Soldat,
er kniet im Geist vorm Krippenschein
und bringt als Gabe seine Tat.
Er lädt das Jesuskind, als Gast
Zu kommen in sein Herz hinein –
Und sieh’ es kommt, doch nicht als Gast,
nein, immer will es bei ihm sein.
Als wir uns zum Totengedenken erhoben, standen ebenfalls die Russen
auf. Wie die Natschalnik (Chefärztin) nachher gestand, war sie ganz im
Bann der Feier gefangen und wenn sie auch nicht alles verstand, so doch
das eine, dass es etwas sein musste, was unser ganzes Innere erfasste.
Wie jede Weihnacht so klang auch jene Gefangenenweihnacht 1944 in dem gemeinsamen Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ aus.
An die 700 Deutsche und 3 – 300 Ungarn sangen sich darin Schmerz und
Leid und Sehnsucht los. Ich spielte Klavier, aber ich muss gestehen, mir
erging es nicht anders wie den anderen, in den Augenwinkeln zuckte es
und in der Kehle würgte es nicht wenig. Und jedes Mal wenn ich dabei an
frühere Weihnachten aus Kinderzeit dachte, würgte es noch mehr. Dann
jagte ich die Finger über die Tasten und hörte die Saiten vom harten
Anschlag aufschreien, ihnen sollte es nicht besser ergehen als unseren
wunden Herzen.
Still gingen wir auf unsere Stuben, ein jeder nahm
Weihnachtsgedanken und –gefühle mit hinaus. Auch denen, die an der
Feier nicht teilnehmen konnten, sangen wir noch Weihnachtslieder, wir
gingen von Zimmer zu Zimmer und dann in’s Isolationshaus, wo die
Todgeweihten ihre letzten Tage verbrachten. Gerade diese waren so
dankbar für die Freude, die wir ihnen noch in später Nacht bereiteten.
Im Zimmer 12 wohnten Kommandant, die Ärzte und andere „besseren Leute“,
diese hatten auch eiserne Betten und manche Vergünstigungen vor den
anderen. Zu diesen Prominenten gehörte denn seit 4 Wochen auch der
„Kompositeur“. Diesen Titel und diese Ehre errang ich mir, als mir in
einem Konzert zu Ehren einiger russischer Regierungsbeamten von diesen
ein Kompliment gemacht wurde, das unsere Natschalnik für sich annahm.
Als ich nun von dem Weihnachtssingen zurückkam, saßen die Herren schon
am rohen Tisch beisammen, der für 26 Menschen reichen sollte, aber nur
die Hälfte fasste, die anderen saßen an ihren Betten. Auf dem Tisch
stand ein Fläschlein mit einer bläulichen Flüssigkeit. Als ich nun das
Zimmer betrat erhob sich der Kommandant, - er war ein alter Lehrer aus
Ostpreußen kurz vor seinem 60. Geburtstag, und litt damals an allerlei
der Bewegung hemmenden Krankheitserscheinungen, war an Händen und Füßen
gegen die Kälte in Watte eingehüllt; sein Tappeln erinnerte mehr an
einen Teddybär als an einen Menschen, mühsam erhob er sich und ging mir
entgegen. Nach seien Dankesworten für mein Mitwirken an dieser
unvergesslichen Weihnachtsfeier, bot man mir schmunzelnd das Fläschchen
an – ich nahm wohl an, aber schon beim Nippen fuhr ein Gruseln durch den
ganzen Körper. Das war der Alkohol, den die Schwestern
leidenschaftlich liebten. Die Chefärztin hatte ihn den deutschen Ärzten
als Weihnachtsgratifikation gebracht; dann durfte ich noch eine
Zigarette drehen, aus parfümiertem russischen Feinschnitt, den wir dem
Edelmut einer russischen Schwester verdankten. Unter Weihnachtsgesängen
und Weihnachtsgesprächen vergingen rasch die Abendstunden. Und manche
Freundschaft wurde geschlossen, die auch über die Gefangenschaft hinaus
standhielt.
Auch das bittere Seufzen „Ach, daheim ....“, das
endlos in unseren Gehirnen kreiste, war wieder da und wie ein Schrei
quälte das Herz „wenn nur erst Friede wäre, dann könnten wir anfangen zu
rechnen. Der Russe hatte uns ja versprochen: 18 Monate nach
Kriegsschluss sind alle Gefangenen zuhause. Wir klammerten uns an dieses
Versprechen und wollten auch nicht in dieser Hoffnung gestört werden,
obwohl wir beinahe täglich feststellen mussten, wie ernst es der Russe
mit seinen Versprechungen nahm.
Mit dem seligen Gedanken, dass
doch der Friede auf Erden nicht mehr lange auf sich warten lassen könne,
und wir dann an die Heimat denken dürften, schliefen wir ein und
träumten Weihnacht aus der Kinderzeit und hätte jemand die Schlafenden
belauscht, hätte er manches glückselige Wort vernommen, das am Tag still
behütet ward. Und noch über den nächsten Tagen lag ein Zauber, eben der
Zauber, den die Hl. Nacht in den Herzen der Geächteten und Verlassenen
zurücklässt, ein Licht, das auf dem Antlitz eines Unglücklichen
leuchtet, ein feuer, das die Kälte des Winters erwärmt und das Eis in
der Seele der Verstockten bezwingt.