24.12.2019

Ferne Weihnacht - aus der Kriegsgefangenschaft in Atkarsk von Hans Martin

Im 23. Juli 1944, in der Schlacht von Brody / Lemberg, wurde Hans Martin verwundet und galt seither, für seine Frau Lilo und den Erstgeborenen Hans sowie die Angehörige und Freunde als Verschollen. Bis er nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und einer abenteuerlichen Flucht am 17. August 1945 ohne Vorwarnung seine Lieben wieder in die Arme schließen konnte. 

Ferne Weihnacht 1944

3 Jahre waren seit jener Kriegsweihnacht vor Moskau vergangen. Über die Tatarensteppe, deren feiner Sand im Sommer so unbarmherzig geglüht hatte, lag tiefer Schnee gebreitet und ein eisiger Wind jagte über sie hinweg. Noch immer wandelten die dürren Gestalten der Kriegsgefangenen nur mit Hemd und Unterhose bekleidet auf Holzpantoffeln durch die Gänge des Lazarettes, eines der wenigen Steingebäude von Atkarsk, einer Stadt zwischen 30.000 und 40.000 Einwohnern. Früher war es eine Schule, jetzt aber waren kranke und verwundete „Fritze“ drin untergebracht, verhasste Deutsche, über deren Dasein doch viele beglückt waren, denn so gute Zeiten hatten sie noch nie gesehen wie jetzt, da sie auf Kosten der Gefangenen gut leben konnten.

Seit einigen Tagen herrschte eine gehobenere Stimmung im Haus und alle hatten etwas Besonderes, ein Geheimnis, wohl auch nur ein leeres Gerücht, an das man sich aber klammerte – und ein jeder hütete sein Geheimnis, um nicht enttäuscht zu werden, wenn es in Wasser zerlaufen sollte. Aber es war kein Gerücht diesmal. Der Major der NKWD, der berüchtigten GPU, [медведь ] auf deutsch „der Bär“, von uns allgemein ob seiner Armprothese Holzarm genannt, hatte allen Ernstes versprochen, dem Lazarett nicht nur einen, sondern sogar 2 Fichtenbäume zu besorgen und auf unsere bange Anfrage, ob wir denn auch eine Weihnachtsfeier halten dürften, antwortete er mit seinem gönnerhaften [ позволило ], d.h. es ist erlaubt.

3 Tage vor dem Hl. Abend sollte eine Ausstellung von selbstgefertigten Spielsachen stattfinden. Da regte sich nun die Schaffensfreude und wer nur irgendwelche Geschicklichkeit der Hand besaß, begann zu schnitzen und zu basteln. Messer sind gefährliche Waffen und deshalb verboten. Aber Not macht erfinderisch – und dieses Sprichwort bewahrheitete sich auch hier. Als der Tag der Ausstellung herankam, war ein ganz schönes Häufchen von Spielzeug zusammengekommen und der russische Major zog mit seinem Pack zufrieden ab.

Nun hatten wir sogar erreicht, dass die Feier auf abends 8 Uhr festgelegt wurde. Mit der Küchenschwester waren wir bald einig, das Abendessen wurde auf eine Stunde vorverlegt, aber für das Licht war uns bange, gar oft schon ließ es uns in Stich – und so kam es auch. Die Weihnachtsfeier musste im Halbdunkel einiger rauchender und rußender Petroleumlampen gehalten werden und war vielleicht gerade dadurch so denkwürdig.

In den Nachmittagsstunden des Hl. Abends herrschte reges Leben. Im großen Saal der 120 Kranke beherbergte, wurden die beiden Bäume aufgestellt und mit Watte geschmückt, das dumpfe Dahinbrüten der Kranken war geschwunden und auf aller Gesichtern konnt man etwas von der frohen Erwartung eines Kindes lesen. Hin und wieder tauchte eine russische Schwester oder einer der Wachposten auf, von Neugierde getrieben, zu sehen wie die Deutschen das machen und verschwanden dann wieder.

Es dämmerte, die Vorarbeiten waren beendet, nach dem Essen wurde der Saal geöffnet und alles drängte hinein. Vorne etwas seitwärts waren die Plätze für die russischen Ärztinnen, für den Lagerkommandanten und die deutschen Ärzte. Wer einigermaßen konnte, erschien, für die Schwerkranken waren Liegeplätze freigehalten, die anderen saßen auf einer Decke. Die Türen zu den Nebenzimmern waren geöffnet, so konnten ungefähr 1000 Deutsche und Ungarn an der Feier teilnehmen.

Der Saal hatte eine ausgezeichnete Akustik und war für Konzertzwecke wie geschaffen. Kurz nach 8 Uhr erschienen die Ärztinnen, ihnen voran die kleine, gedrungene Natschalnik mit ihrem watschelnden Gang, von uns ob ihrer anfänglichen Gehässigkeit auf die Deutschen Zecke genannt. Bald aber hat sie sich in eine sorgende Frau verwandelt, die manches Unheil von uns abwendete. Ihr Erscheinen war das Zeichen zum Beginn. Von nun an war tiefstes Schweigen, das heute auch nicht vom halblauten Geschwätz und Kichern der Russinnen unterbrochen war.

Hymne an die Nacht
Heil'ge Nacht, o gieße du Himmelsfrieden in dies Herz,
Bring' dem armen Pilger Ruh', holde Labung seinem Schmerz!
Hell schon erglühn die Sterne, grüßen aus blauer Ferne:
Möchte zu euch, so gerne flieh'n himmelwärts.
Harfentöne, lind und süß, weh'n mir zarte Lüfte her,
aus des Himmels Paradies, aus der Liebe Wonnemeer.
Glüht nur, ihr gold'nen Sterne, winkend aus blauer Ferne:
Möchte zu euch, so gerne flieh'n himmelwärts.
Text: Friedrich von Matthisson (1761−1831)
Komponist: Ludwig van Beethoven

Dieser Chor leitete die Feier ein, dann sprach P. Notker oder wir ihn nannten Josef einige Worte über die folgende Weihnachtskantate, zu welcher er die Worte formte und ich die Musik schrieb. Aber kaum waren die ersten Akkorde verklungen, da gab es einen Knacks und wir saßen im Dunkel, der Chor hatte eben zu singen begonnen, aber er sang trotz der Dunkelheit unbeirrt weiter:

Es klingt ein Lied aus Kindheitstagen,
da unterm lichten Weihnachtsbaum
von sel’ger Mutterlieb getragen,
ich träumt’ den allerschönsten Traum.
In heil’ger Nacht war Fried zuteil
Den Menschen auf Erden geworden;
Ein Kind hat ihnen gebracht das Heil
Geöffnet verschlossene Pforten.

Nun da die Augen nichts sahen, waren ihre Herzen mehr aufgeschlossen für das, was die Ohren hörten. Wie gut, dass wir uns für diesen Fall schon vorgesehen hatten. Im Nu brannten zwei Petroleumlampen, die eine am Klavier, die andere für die Solisten, die nicht ganz sicher und auch nicht frei vom Lampenfieber waren. Trotz Lampe musste sich der Klavierspieler, ein Oberarzt der Erlangener Universitätsklinik, seit Stalingrad in Gefangenschaft, recht abmühen, dass er lesen konnte; denn das Papier, das man in Russland findet, ist schlecht, Tinte und Federn noch schlechter. Aber der Versuch mit einer zweiten Lampe misslang; sie stürzte ins offene Klavier und ergoss sich über die Saiten, wohl dass kein Rost sich ansetzte. Der Zwischenfall wurde kaum bemerkt, ebenso entging den meisten, dass der Tenorsolist bei seinem ersten Einsatz wiederholen musste, er hatte gleich in der Mitte seiner Verkündigungsarie begonnen: Siehe, Du wirst empfangen! Die plötzliche Finsternis hatte ihn so beunruhigt, dass ihm alles entschwand und das erste Wort das ihm in die Erinnerung zurückkehrte, war dann auch verkehrt. Weiterhin machte er keinen Fehler mehr, da ich ihm Wort für Wort vorsprach. Der Bassist hingegen, ein Kulmbacher Arzt, sang unbeirrt und ließ sich durch nichts stören.

Die Kantate war beendet, alles lauschte nun den Worten der Frohbotschaft, die Josef den armen Gefangenen vorlas, den Worten, die Frieden den Menschen verkündeten. So dürften also auch wir hoffen und harren auf den Frieden und auf die Heimkehr. In jenen Augenblicken bezogen wir alle diese Worte auf diese Welt.

Aber war das nicht ein Hohn? Der Russe lässt uns die Geburt Christi feiern, dessen Gedächtnis er in seinem Volke mit aller verfügbaren Macht auszurotten versuchte. Diese Frage berührte uns nicht, sie stand damals auch nicht vor uns, wir waren von der Weihnacht zu tiefst ergriffen, gleich ob gläubig, oder nicht – in dieser Stunde stand das Kind in der Krippe im Mittelpunkt unseres Denkens und Fühlens.

Nun stellten einige Kameraden aus den Alpen drei Szenen dar:

Die Hirten am Feuer, die Herbergssuche und die Anbetung der Hirten. Sie machten es fein, die Notbeleuchtung kam ihnen dabei vorteilhaft zustatten. Auch der Chor sang noch einige Weihnachtslieder.

Nun sollten aber auch die nicht vergessen sein, die von uns gegangen sind. Mit diesen standen wir ja ganz nahe in Verbindung, jeden Tag hauchte einer sein Lämpchen aus, und niemand konnte bei klarer Überlegung wissen, ob nicht auch er dort drüben sein Leben lassen müsse. Dazu kam noch das furchtbare Wissen vom Los der 92.000 von Stalingrad.

Ein Gedicht, das ein unbekannter Stalingrader in jener Kriegsweihnacht von 1942 geschrieben, ist wohl erst nach seinem Tode aufgefunden worden und wurde von einem Arzt als Heiligtum aufbewahrt.

Wild rast der Sturm hin übers Land,
zuweilen kracht es heulend in den Schnee,
doch heut ward frohe Botschaft ausgesandt:
Die Ehr’ dem Gott in der Höh’!
Horch, klingt da nicht ein Glockenton
Singt nicht dort oben Engelschor?
Der Welt verkündend Gottes Sohn
Und Fried den Menschen immerdar!
Im Bunker sitzt bei Kerzenschein,
still versunken ein Soldat,
er kniet im Geist vorm Krippenschein
und bringt als Gabe seine Tat.
Er lädt das Jesuskind, als Gast
Zu kommen in sein Herz hinein –
Und sieh’ es kommt, doch nicht als Gast,
nein, immer will es bei ihm sein.

Als wir uns zum Totengedenken erhoben, standen ebenfalls die Russen auf. Wie die Natschalnik (Chefärztin) nachher gestand, war sie ganz im Bann der Feier gefangen und wenn sie auch nicht alles verstand, so doch das eine, dass es etwas sein musste, was unser ganzes Innere erfasste.

Wie jede Weihnacht so klang auch jene Gefangenenweihnacht 1944 in dem gemeinsamen Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ aus.

An die 700 Deutsche und 3 – 300 Ungarn sangen sich darin Schmerz und Leid und Sehnsucht los. Ich spielte Klavier, aber ich muss gestehen, mir erging es nicht anders wie den anderen, in den Augenwinkeln zuckte es und in der Kehle würgte es nicht wenig. Und jedes Mal wenn ich dabei an frühere Weihnachten aus Kinderzeit dachte, würgte es noch mehr. Dann jagte ich die Finger über die Tasten und hörte die Saiten vom harten Anschlag aufschreien, ihnen sollte es nicht besser ergehen als unseren wunden Herzen.

Still gingen wir auf unsere Stuben, ein jeder nahm Weihnachtsgedanken und –gefühle mit hinaus. Auch denen, die an der Feier nicht teilnehmen konnten, sangen wir noch Weihnachtslieder, wir gingen von Zimmer zu Zimmer und dann in’s Isolationshaus, wo die Todgeweihten ihre letzten Tage verbrachten. Gerade diese waren so dankbar für die Freude, die wir ihnen noch in später Nacht bereiteten.

Im Zimmer 12 wohnten Kommandant, die Ärzte und andere „besseren Leute“, diese hatten auch eiserne Betten und manche Vergünstigungen vor den anderen. Zu diesen Prominenten gehörte denn seit 4 Wochen auch der „Kompositeur“. Diesen Titel und diese Ehre errang ich mir, als mir in einem Konzert zu Ehren einiger russischer Regierungsbeamten von diesen ein Kompliment gemacht wurde, das unsere Natschalnik für sich annahm.

Als ich nun von dem Weihnachtssingen zurückkam, saßen die Herren schon am rohen Tisch beisammen, der für 26 Menschen reichen sollte, aber nur die Hälfte fasste, die anderen saßen an ihren Betten. Auf dem Tisch stand ein Fläschlein mit einer bläulichen Flüssigkeit. Als ich nun das Zimmer betrat erhob sich der Kommandant, - er war ein alter Lehrer aus Ostpreußen kurz vor seinem 60. Geburtstag, und litt damals an allerlei der Bewegung hemmenden Krankheitserscheinungen, war an Händen und Füßen gegen die Kälte in Watte eingehüllt; sein Tappeln erinnerte mehr an einen Teddybär als an einen Menschen, mühsam erhob er sich und ging mir entgegen. Nach seien Dankesworten für mein Mitwirken an dieser unvergesslichen Weihnachtsfeier, bot man mir schmunzelnd das Fläschchen an – ich nahm wohl an, aber schon beim Nippen fuhr ein Gruseln durch den ganzen Körper. Das war der Alkohol, den die Schwestern leidenschaftlich liebten. Die Chefärztin hatte ihn den deutschen Ärzten als Weihnachtsgratifikation gebracht; dann durfte ich noch eine Zigarette drehen, aus parfümiertem russischen Feinschnitt, den wir dem Edelmut einer russischen Schwester verdankten. Unter Weihnachtsgesängen und Weihnachtsgesprächen vergingen rasch die Abendstunden. Und manche Freundschaft wurde geschlossen, die auch über die Gefangenschaft hinaus standhielt.

Auch das bittere Seufzen „Ach, daheim ....“, das endlos in unseren Gehirnen kreiste, war wieder da und wie ein Schrei quälte das Herz „wenn nur erst Friede wäre, dann könnten wir anfangen zu rechnen. Der Russe hatte uns ja versprochen: 18 Monate nach Kriegsschluss sind alle Gefangenen zuhause. Wir klammerten uns an dieses Versprechen und wollten auch nicht in dieser Hoffnung gestört werden, obwohl wir beinahe täglich feststellen mussten, wie ernst es der Russe mit seinen Versprechungen nahm.

Mit dem seligen Gedanken, dass doch der Friede auf Erden nicht mehr lange auf sich warten lassen könne, und wir dann an die Heimat denken dürften, schliefen wir ein und träumten Weihnacht aus der Kinderzeit und hätte jemand die Schlafenden belauscht, hätte er manches glückselige Wort vernommen, das am Tag still behütet ward. Und noch über den nächsten Tagen lag ein Zauber, eben der Zauber, den die Hl. Nacht in den Herzen der Geächteten und Verlassenen zurücklässt, ein Licht, das auf dem Antlitz eines Unglücklichen leuchtet, ein feuer, das die Kälte des Winters erwärmt und das Eis in der Seele der Verstockten bezwingt.