10.05.1972
Jahr 1944 / 1945: Atkarsk und Die Atkarsker Weihnachtskantate
Atkarsk liegt am Oberlauf des Medwjediza, eines Nebenflusses des Don, etwa 100 km nordwestlich von Saratow, der ehemalige Hauptstadt der Wolgadeutschen Autonomen Republik und 400 km nördlich von Wolgograd (von 1925 bis 1961: Stalingrad).
Atkarsk war zu dieser Zeit der Standort der Uprawlenije 7-338 und des Gefangenen-Hospitals 5-131, entstanden im Januar 1944 und wurde im Oktober 1947 aufgelöst.
Hans Martin (*1916 - †2007) wurde Anfang August 1944 in das Lazarett II. des Gefangenen-Hospitals eingeliefert, nachdem er am 23. Juli des gleichen Jahres bei Brody (ca. 90 km nordöstlich von Lemberg, heute Lwiw/Lviv in der Ukraine) verwundet worden und in russische Kriegsgefangenschaft geraten war. Kurze Zeit später wurde er in das Lazarett I. verlegt.
Im Herbst 1944 übernahm er auf Empfehlung des deutschen Arztes Dr. Hugo Rüd
Dr. Hugo Rüd (*29-Juli-1909 – † 6-Jan-1960)
die Kulturgruppe des Lazaretts und stellte aus zwölf guten Sängern einen Chor zusammen, der in der Folgezeit in den drei Häusern des Gefangenenlazaretts regelmäßige Konzerte gab.
Erinnerungen von Hans Martin
an die Entstehung der Atkarsker Kantate und die Kriegsweihnacht 1944
Der heiße Sommer des Jahres 1944 war vorüber, und auch die Herbsttage wurden immer kürzer. Über die Tatarensteppe lag tiefer Schnee gebreitet und eisige Stürme tobten. Die abgemagerten Gestalten der Kriegsgefangenen schlichen, nur mit Hemd und Unterhose bekleidet, auf Holzpantinen durch die Gänge des Lazaretts, eines der wenigen Steingebäude von Atkarsk, einer Stadt von 30 – 40.000 Einwohnern, 350 km nördlich von Stalingrad und 650 km südöstlich von Moskau.
An Weihnachten musste etwas geschehen, das war uns allen klar. So saßen wir denn Anfang November Abend für Abend zusammen, der Franziskanerpater Notker Klenk (*8-Februar-1907 - † 8-Juli-1982) und ich und beratschlagten, wie die Weihnachtsfeier zu gestalten sei, lange bevor eine Genehmigung durch die russische Lagerleitung zu denken war. Langsam entstand der Text nach den Worten der Frohen Botschaft und nach eigenen Gedanken.
Pater Notker Klenk (*8-Februar-1907 - † 8-Juli-1982)
Quelle: Archiv der dt. Franziskanerprovinz, München
Die musikalischen Skizzen erfolgten rasch nach der Fertigstellung des Textes und wurden auf braunes Packpapier geschrieben. Unverzüglich ging es an die Proben. Der Arzt Dr. Hans Huber (geb. 12-Dezember-1916 – † 25-Februar-2010) und der Architekturstudent Lothar Schmidt erhielten die Soloparts, der Lazarettchor übte fleißig, und Dr. Hugo Rüd, ein Arzt aus Erlangen (geb. 29-Juli-1909 – † 6-Januar-1960) übernahm bereitwillig die Klavierbegleitung.
So nahte der Heilige Abend des fünften Kriegsjahres heran. Im Treppenhaus des Lazaretts standen, vom Politoffizier ausdrücklich genehmigt, zwei Fichtenbäume. Das Abendessen wurde um eine Stunde vorverlegt, sodass die Feier um 8:00 Uhr beginnen konnte.
In den Nachmittagsstunden des Heiligen Abends herrschte im ganzen Haus reges Treiben. Im großen Saal, in dem 120 Kranke untergebracht waren, wurden die beiden Bäume aufgestellt und mit Watte geschmückt.
Es dämmerte – die Vorarbeiten waren beendet. Nach dem Essen wurde der Saal geöffnet. Alle drängten herein. An der Seite vorne waren die Plätze für die russischen Ärzte, den Lagerkommandanten und die deutschen Ärzte freigehalten. Wer sich einigermaßen bewegen konnte, erschien – für die Schwerkranken wurden Liegeplätze hergerichtet, die anderen saßen auf Decken. Die Türen zu den Nebenzimmern waren geöffnet. So konnten ungefähr 1.000 Personen an der Feier teilnehmen. Kurz nach 8 Uhr erschienen die Ärztinnen, allen voran die kleine gedrungene Chefärztin. Nun konnte die Feier beginnen.
„Heilige Nacht, o gieße du Himmelsfrieden in dies Herz ...“ Dieser Chor leitete die Feier ein, dann sprach Pater Notker oder wie wir ihn nannten Josef, einleitend über die Kantate, zu der er ja den Text geschrieben hatte. Dann war es soweit. Aber kaum waren die ersten Akkorde erklungen, traf das erste Missgeschick ein. Ein Knacks! Wir saßen im Dunkel. Der Chor hatte eben zu singen begonnen „Es klang ein Lied ...“ und sang unbeirrt weiter. Für diesen Fall hatten wir schon vorgesorgt. Im Nu brannten zwei Petroleumlampen, die eine am Klavier, die andere für die Solisten, die nicht ganz sicher und auch nicht frei von Lampenfieber waren. Trotz Lampe musste sich der Klavierspieler Dr. Hugo Rüd, seit Stalingrad in Gefangenschaft, recht abmühen, dass er die Noten lesen konnte. Denn das Papier, das wir in der Gefangenschaft bekamen, war schlecht, Feder und Tinte waren noch schlechter.
Der Versuch mit einer zweiten Lampe misslang, sie stürzte ins offene Klavier und ergoss ihren Inhalt über die Saiten. Der Zwischenfall wurde kaum bemerkt, ebenso entging den meisten, dass der Tenorsolist Lothar Schmidt bei seinem ersten Einsatz wiederholen musste. Die plötzliche Finsternis hatte ihn so beunruhigt, dass ihm alles entschwand, und das erste Wort, das in seine Erinnerung zurückkehrte, war dann auch falsch.
Von nun an aber gab es keine Pannen mehr ...
Nachtrag:
Eine 2. Aufführung der Atkarsker Weihnachtskantate fand am 6. Januar 1945 im Lazarett II in Atkarsk statt.
Nach der Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft, am 18. August 1945, Hat Hans Martin die Kantate aus dem Gedächtnis erneut niedergeschrieben, und für Sopran, Bass, 4-st. gem. Chor u. Orgel angepasst und (am 24. September 1949 abgeschlossen) für Kammerorchester orchestriert.
Aufführungen:
Sonntag, 24. Dezember 1944 – Uraufführung im Lazarett Haus I. in Atkarsk Atkarsker Weihnachtskantate für 2 Solostimmen, gemischter Chor und Klavier
Die Solisten der ersten Aufführung am 24. Dezember 1944 waren Tenor: Lothar Schmidt, Darmstadt
Bass-Bariton: Dr. Hans Huber, Kulmbach (heute Gunzenhausen)
Klavier: Dr. Hugo Rüd, Erlangen (später Günzburg/Ulm)
Gefangenchor des Atkarsker Lazarett I.
Leitung: Hans Martin
Eine zweite Aufführung fand am Samstag, 6. Januar 1945 im Lazarett II. in Atkarsk statt.
Tenor: Siegfried Köhler,
Bass-Bariton: Dr. Hans Huber, Kulmbach (heute Gunzenhausen)
Klavier: Dr. Hugo Rüd, Günzburg/Ulm
Gefangenchor des Atkarsker Lazarett I.
Leitung: Hans Martin
Weitere Aufführungen: (u.a.)
- 1959 in St. Gertraud, Würzburg mit Orgelbegleitung
- 1981 in St. Gertraud, Würzburg mit Orchester
- 1991 im Würzburger Dom mit Orgelbegleitung
(dazu gibt es bei Conventus Musicus eine Aufnahme auf CD - Bestellnummer CM 1010)